Wo bleibt die Unabhängigkeit der Justiz?
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat mit seinem heute veröffentlichten Beschluss den Antrag der AfD-Fraktion auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt (Aktenzeichen 2 BvE 10/21). Mit dem bereits am 31.12.2021 eingereichten Eilantrag hatte sich die AfD-Fraktion gegen die Versagung der ihr zustehenden Ämter der Ausschussvorsitzenden im Deutschen Bundestag juristisch zur Wehr gesetzt.
Gemäß § 12 Geschäftsordnung des Bundestages (GO-BT) muss jede der im Bundestag vertretenen Fraktionen nach dem Verhältnis ihrer parlamentarischen Sitze berücksichtigt werden, ausdrücklich auch bei der Vergabe der Ausschussvorsitze. Nach § 58 GO-BT „bestimmen“ die Ausschüsse ihre jeweiligen Vorsitzenden „nach den Vereinbarungen im Ältestenrat“.
Gereon Bollmann, früherer Richter am Oberlandesgericht Schleswig, erklärt dazu:
„Heute ist ein schlechter Tag für die Demokratie in Deutschland. Die Altparteien versagen aus rein politisch motivierten Gründen der AfD-Bundestagsfraktion das ihr zustehende Recht auf Besetzung dieser im Parlamentsbetrieb wichtigen Ämter. Dies, obwohl der AfD nach den Vereinbarungen im Ältestenrat des Bundestags der Vorsitz in den Ausschüssen für Innenpolitik, für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sowie für Gesundheit zusteht, daneben noch drei stellvertretende Ausschussvorsitze.
Dieser Skandal wird mit dem heutigen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts noch befeuert. Die heutige Entscheidung der Höchstrichter wirft ein Schlaglicht auf die politische Schlagseite der bundesdeutschen Justiz und wirft die Frage nach der Unabhängigkeit der Karlsruher Richter auf.
Nachdem das Bundesverfassungsgericht bereits über ein halbes Jahr Zeit brauchte, um über die einstweilige Anordnung zu entscheiden, ist es eine Farce sondergleichen, dass auch weiterhin über 10 Prozent des Wählerwillens missachtet und parlamentarische Grundsätze aus den Angeln gehoben werden.
Im Volksmund als „Eilverfahren“ bezeichnet, charakterisiert sich die einstweilige Anordnung als vorläufige Regelung, die vor allem den Eintritt irreversibler Zustände verhindern soll. Die Bearbeitungsdauer als auch die Begründung des vorliegenden Beschlusses zeigen deutlich auf, dass den obersten Verfassungshütern nicht daran gelegen ist, die Grundpfeiler der Demokratie zu schützen, sondern politisches Kalkül.
Die Erwägungen des Senats liefen zuerst darauf hinaus, dass mit dem Amt des Ausschussvorsitzenden vor allem Geschäftsleitungs- und Organisationsbefugnisse verbunden sind, welche durch weitgehende Kontroll- und Korrekturrechte der Ausschussmitglieder begrenzt sind: „Ein Funktionsamt mit eingeschränktem Handlungsspielraum“. Eine unwichtige Position, deren Nichtbekleidung die politische Willensbildungsarbeit der Abgeordneten nicht einschränkt.
Der Widerspruch folgt sogleich und legt die Abhängigkeit der Justiz dar, denn, so das Bundesverfassungsgericht, es sei die Funktionsfähigkeit des (gesamten) Bundestages gefährdet, wenn das ach so wichtige Amt des Ausschussvorsitzenden von einem AfD-Abgeordneten besetzt würde, da es an einem mehrheitlichen Vertrauen innerhalb der jeweiligen Ausschüsse fehle!
Es stellt sich nun die Frage nach dem Hauptargument der ersten Begründung: ein Funktionsamt mit starken Kontroll- und Einschränkungsrechten seitens der Ausschussmitglieder. Dieses sucht man nun vergebens!
Wenn Legislative und Judikative Hand in Hand gegen einen parteipolitischen Gegner vorgehen, ist das demokratische Grundprinzip der Gewaltenteilung infrage gestellt. Wenn es gegen die AfD geht, scheinen die zentralen Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht mehr zu gelten.
Abzuwarten bleibt nun die Entscheidung in der Hauptsache. Die gewaltenteilige politische Willensbildung wird durch ein Organstreitverfahren gesichert; ihre Entscheidungen sind zumeist von erheblicher Bedeutung bzgl. der Weiterentwicklung unseres Demokratieverständnisses. Es ist ein demokratischer Grundpfeiler, dass parlamentarische Minderheiten die Beachtung parlamentarischer Kompetenzen einfordern können!
Es bleibt zu hoffen, dass die obersten Verfassungshüter Deutschlands für eine Unabhängigkeit der Justiz einstehen. Allerdings befürchtete ich bereits am 17. Juni in meiner jüngsten Besprechung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zulasten Angela Merkels, dass es sich dabei nicht um einen Kurswechsel, sondern nur um einen kleinen Etappensieg handelte.“
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