Das Bundesverfassungsgericht nimmt Abschied von der Rechtsstaatlichkeit
Mit seiner heute verkündeten Entscheidung zur sogenannten Bundesnotbremse hat sich das Bundesverfassungsgericht selbst ein bedauernswertes Armutszeugnis seiner jüngeren Verfassungsrechtsprechung ausgestellt: zügig schreitet es fort auf seinem erbärmlichen Weg zum Steigbügelhalter dramatischen Gesetzgebungsversagens und adelt außerdem die scheidende Merkel-Regierung mit einem unverdienten Abschiedsgeschenk.
Noch in Jahrzehnten werden sich spätere Juristengenerationen fragen, wie sich nach und nach ein so bisher nicht feststellbarer Qualitätsverlust in die Verfassungsrechtsprechung hat einschleichen können. Wieder einmal hat das Bundesverfassungsgericht gravierende Grundrechtseingriffe abgesegnet, die in ihrem Ausmaß seit dem Bestehen der Bundesrepublik wohl einmalig sein dürften. Nicht nur das der Entscheidung zugrunde liegende Verfahren, sondern auch die materielle Begründung belegen, dass der Senat seine vornehmste Aufgabe missachtet hat, nämlich seine Kontrollfunktion als Judikative.
Zunächst hatte der Senat während des laufenden Verfahrens einen gegen ihn und seinen Präsidenten gerichteten Befangenheitsantrag wegen einer Teilnahme an einem abendlichen Diner bei der Kanzlerin still und heimlich zurückgewiesen. In der völlig abgehobenen Begründung hierzu heißt es sinngemäß auf noch nicht einmal einer ganzen Seite, das Treffen bei der Kanzlerin entspreche einer ständigen Übung und überdies verstehe es sich von selbst, dass die Richter wegen eines solchen Vorgangs schon aus sich selbst heraus, quasi naturgemäß gar nicht befangen sein könnten. Welch ein Ausdruck an dieser Stelle besonders unpassender Hybris! Als früherer Richter habe ich diese Ausführungen nur fassungslos zur Kenntnis genommen. Nur als ein Beispiel aus meinem Berufsleben sei erwähnt, dass wir seinerzeit rund eine viertel Stunde gemeinsam darüber beratschlagt haben, ob wir eine Tasse Kaffee annehmen sollten, die uns eine Partei in ihrem Rechtsstreit angeboten hatte, auf deren Anwesen wir eine Beweisaufnahme im Rahmen eines Ortstermins durchführen mussten. Man mag die Ablehnung einer derart freundlichen Geste durchaus als kleinkariert empfinden, aber sie ist schlichtweg dem richterlichen Ethos geschuldet, ohne das eine nicht nur bei den jeweiligen Parteien, sondern darüber hinaus auch in der Öffentlichkeit akzeptierte Rechtsprechung nicht möglich erscheint.
Außerdem hat sich der erste Senat – wie schon bei seinem sogenannten Klimaurteil – erneut erdreistet, allein im Schriftwege ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Als Außenstehende kennen wir natürlich nicht die Akten, aber zwei Dinge sind doch zumindest klar: zum einen bewegt sich die Meinungsbildung des Richters doch in einem gewissen geistigen Korridor, wenn er sich über die streitigen Fragen allein durch die Lektüre der widerstreitenden Schriftsätze in Kenntnis setzt. Es fehlt die tiefere Auseinandersetzung mit den jeweiligen Argumenten und insbesondere spontane Nachfragen des Gerichtes an die Parteien und der Parteien an das Gericht sind nicht möglich. Zum anderen drängt sich bei einem unbefangenen Beobachter der Verdacht auf, dass der Senat hier das Licht der Öffentlichkeit gescheut hat, das nun einmal zwangsläufig mit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Hauptsache verbunden ist. Waren dem Senat die ihm hier unterbreiteten, höchst wichtigen Grundrechtsfragen eine mündliche Verhandlung schlichtweg nicht wert?
Allein diese unglaublichen Vorgänge, die nach meiner Erfahrung so in keinem anderen Gerichtsverfahren denkbar wären, stellen einen handfesten, justiziellen Skandal dar.
Mit seinen materiellen Entscheidungsgründen setzt der Senat dem dann noch die Krone auf und folgt der Einfachheit halber in weiten Bereichen der Gesetzesbegründung. Eine tiefere Auseinandersetzung mit den entscheidenden Punkten der Beschwerdeführer ist deutlich zu vermissen. Nicht nur einmal, sondern mehrfach dreht sich die Argumentation an vielen Stellen redundant um die Behauptung, die angehörten Sachverständigen hätten das in das Gesetz gegossene Regierungshandeln als zwingend notwendig erachtet. Nur so wird verständlich, dass die Richter ähnlich wie damals im Klimaurteil hier mehr als 300 Seiten für den Versuch benötigt haben, ihre Entscheidung nachvollziehbar zu begründen. An Qualität gewinnt sie durch diesen Umfang allerdings nicht. Nur als juristisches Feigenblatt kann man dann ferner bezeichnen, dass sich der Senat ohne ernsthafte Bedenken im Wesentlichen auf die Stellungnahme einer Behörde des Bundesjustizministeriums beruft, nämlich des Robert Koch Instituts und darauf, dass dem Gesetzgeber ein hier verfassungsrechtlich nicht zu hinterfragender Entscheidungsspielraum zukomme, weil in der bisher so noch nie dagewesenen Gefahrenlage aufgrund der Pandemie ja nun einmal eine Entscheidung habe getroffen werden müssen. Nach dieser Entscheidung kann man eigentlich nur fassungslos den Kopf schütteln: es scheint ein Ausweis für den Verlust des gesunden Menschenverstandes zu sein, dass jedes Mitglied des ersten Senates auch noch promoviert ist. Nicht ein Richter hat sich bemüßigt gefühlt, seine Ansicht etwa in einem abweichenden Votum zu den Entscheidungsgründen zu reichen. Noch nicht einmal einem hat dafür der Mut gereicht!
Mit seiner Entscheidung zu diesem unsäglichen Gesetz hat das Bundesverfassungsgericht seinen hoffentlich nicht endgültigen Ausfall als Kontrollorgan im gewaltenteiligen Verfassungsgefüge unserer Demokratie offenbart. Wie es momentan aussieht, werden sich spätere Richter des Bundesverfassungsgerichts einmal sehr schämen müssen für die kritiklose Sicht, mit der ihre Vorgänger an ihrer so überwichtigen Aufgabe krachend gescheitert sind.